Sehen verstehen

Besser sehen mit neuer Brille

So wichtig ist das genaue Wissen um das Zusammenspiel der Augen für eine Brille nach Maß

16. Oktober 2019
  • Besser sehen mit neuer Brille

Seit 30 Jahren trug die neue Kundin von Dirk Siemsen, Inhaber und Optikmeister von mahrt und hoerning in Göttingen, nun bereits eine Brille. Sie hatte Probleme beim Sehen in der Nacht, beim 3D-Sehen, klagte über Lichtempfindlichkeit bei Tag und ist kurzsichtig. Doch keine der bisherigen Brillen unterstützte so recht ihr Sehen auf Dauer optimal. BESSER SEHEN wollte wissen, wie es nun dennoch zu der optimalen Brille kam und warum die Untersuchung des binokularen Sehens hier entscheidend war.

BESSER SEHEN: Was haben Sie bei Ihrer Kundin anders gemacht?

Dirk Siemsen: Diese Kundin war für uns bei mahrt und hoerning kein besonderer Fall, wenn ich das so sagen darf. Für uns stellt sich bei jedem unserer Kunden die Kernfrage: Wie funktioniert das individuelle Sehen unseres Kunden im Detail? Dieses möchten wir mit Hilfe aller optischen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, bestmöglich optimieren: den maximal möglichen Visus herausholen. Dafür nehmen wir uns viel Zeit.

Wir starten mit einer sehr ausführlichen Anamnese. Wir informieren uns, welche Sehgewohnheiten unser Kunde in Beruf und Freizeit hat. Welche Sehprobleme er hat. Aber auch, ob es bestimmte Erkrankungen gibt, die auf das Sehen Einfluss haben können, ob Stress, Kopfschmerz, Verspannungen vorliegen. Und wenn ja, wie beispielsweise der Kopfschmerz gelagert ist. Wir analysieren mit Hilfe des i.Profilers die Sehleistung, blicken mit unserer Funduskamera auf den Augenhintergrund – insbesondere den Sehnervkopf – und prüfen, ob Linsentrübungen vorliegen… Für Augenkrankheiten ist selbstverständlich der Augenarzt zuständig. Aber wir erhalten so einen Eindruck über die Transparenz und Leistungsfähigkeit der Augen im Vorfeld der Brillenglasbestimmung. Das enge Zusammenspiel mit Augenärzten ist uns sehr wichtig.

Wichtig ist uns auch, die Körperhaltung des Kunden zu beobachten. Das können wir sehr gut im Refraktionsraum während der Untersuchung tun. Beeinflussen gewisse Kopf- und Körperhaltungen das Sehen? Dies kann uns erste Rückschlüsse liefern. So auch bei der genannten Kundin.

Bereits während der Anamnese sprach sie über häufige Kopfschmerzen

BESSER SEHEN: Was fiel Ihnen bei dieser Kundin speziell auf?

Dirk Siemsen: Bereits während der Anamnese sprach sie über häufige Kopfschmerzen, und mir fiel auch auf, dass sie eine bestimmte Kopfneigung beim Fokussieren der Testreihen im Refraktionsraum einnahm. Sie fühlte sich häufig geblendet und war lichtempfindlich bei Tag.

Wie bei allen unseren Kunden schaute ich mir das binokulare Sehen an – d.h. wie die Augen im Zusammenspiel arbeiten. Dies führen wir mit dem i.Polatest und darin enthaltenen verschiedenen Tests durch. Die Kundin sah unsere 3D-Tests zuerst nur eindimensional. Das führende Auge übernahm dabei den Job. Das Bild wurde einfach nicht richtig von beiden Augen auf dieselben Stellen der Netzhaut projiziert. Die beiden Bilder auf der Netzhaut hatten quasi in der Überschneidung unterschiedliche Bildhöhen. Für das Gehirn war dieses Bild nicht als 3D-Bild interpretierbar. Es verflachte auf eine Ebene.

Dirk Siemsen - Inhaber und Optikmeister von mahrt und hoerning

Wir sind Individuen, und auch unsere Augen blicken nicht immer optimal geradeaus.

Dirk Siemsen

Inhaber und Optikmeister von Mahrt und Hoerning

BESSER SEHEN: Blicken wir nicht alle geradeaus?

Dirk Siemsen: Wir sind Individuen, und auch unsere Augen blicken nicht immer optimal geradeaus. Ein Beispiel: Bei einem Brillenträger blicken beide Augen in Ruheposition leicht nach außen. Dabei bringt sich das führende Auge, das jeder besitzt, mit Hilfe der Muskeln so in Position, dass es geradeaus sieht. Das nicht führende Auge passt sich dieser Sehsituation an. Das Bild beider Augen ist nicht optimal, wird allerdings in unserem Gehirn so umgerechnet, dass es passt. Dies muss nicht jedem Menschen Probleme bereiten. Für manche bedeutet es allerdings auf Dauer eine Last. Mit der richtigen Optimierung der Brillengläser, basierend auf dem Zusammenspiel der Augen, können wir die Sehleistung hoch halten und die Last reduzieren. Bedenken Sie: Ist ein Brillenglas für das binokulare Sehen nur um 0,25 Dioptrien falsch korrigiert, kann dies bis zu 30 % Sehleistungsverlust bedeuten. Hier gilt es, ganz genau zu arbeiten und bei jeder Dioptrieneinstellung während der Refraktion wieder das Zusammenspiel beider korrigierter Augen zu prüfen. Ändere ich beim linken Auge, hat das auch Einfluss auf das rechte Auge…

BESSER SEHEN: Wie war es bei Ihrer Kundin?

Dirk Siemsen: Dort kam ein sogenannter Höhenversatz hinzu. Die Augen sahen also nicht nur vom Winkel aus nicht optimal nach vorne, sondern auch von der Höhe. Auf Dauer machte dies der Kundin Probleme, und sie war mit ihren Brillengläsern wohl nicht richtig versorgt worden, um dies auszugleichen. Wir entlasteten nun das Sehen mit Hilfe von Prismen im Brillenglas, die man bei diesen Winkelfehlsichtigkeiten einsetzt.

BESSER SEHEN: Konnte denn diese Winkelfehlsichtigkeit schon seit 30 Jahren bestehen?

Dirk Siemsen: Wie unsere Augen ausgebildet sind bzw. auch die Länge der Muskeln im Auge, all das ist genetisch vorprogrammiert – deshalb auch vererbbar. Als Kind oder junger Mensch ist die Kraft der Kompensationsmöglichkeit noch sehr hoch. Erst im Alter sinkt sie oder auch während belastender, stressiger Lebensabschnitte. Es kann also sein, dass man hin und wieder eine Last – z.B. in Form von Kopfschmerz oder Verspannungen – spürt, diese aber wieder vergeht und erst im Alter gehäuft auftritt.

BESSER SEHEN: Die Experten streiten über die Korrektion von Winkelfehlsichtigkeiten. Warum? Einige sprechen sogar von „Suchtfaktor“ in Bezug auf das Tragen von Brillen mit Prismengläsern.

Dirk Siemsen: Das stimmt. Für mich zählt dabei der Seherfolg beim Kunden. Nicht nur dieser speziellen Kundin konnten wir helfen. Nach der Eingewöhnungszeit von in diesem Fall ca. zwei Wochen waren die permanenten Kopfschmerzen weg. Das ungute Gefühl, dass die Brille nicht in jeder Sehsituation optimal ist, ebenfalls. Die Lichtempfindlichkeit am Tag wurde deutlich genommen. Sie fragte mich auch, ob sie jetzt nach der Brille süchtig würde. Was soll ich dazu sagen? Wird die Brille nicht mehr gewollt, ist das Sehen einfach wie zuvor.

Wir nehmen uns dafür sehr viel Zeit bei der Anamnese, im Refraktionsraum und auch für die Betreuung nach dem Kauf.

Dirk Siemsen

Inhaber und Optikmeister von Mahrt und Hoerning

BESSER SEHEN: Was ist für Sie wichtig bei Ihrer Arbeit als Optiker? Wie würden Sie es zusammenfassen?

Dirk Siemsen: An erster Stelle steht für uns das größtmögliche Interesse am individuellen Sehen unseres Kunden. Wir tun alles dafür, die Sehleistung hoch zu halten und evtl. Lasten zu reduzieren. Wir nehmen uns dafür sehr viel Zeit bei der Anamnese, im Refraktionsraum und auch für die Betreuung nach dem Kauf.

Was ist eine Winkelfehlsichtigkeit?

Funktioniert beidäugiges Sehen normal, blicken beide Augen exakt gleich auf das zu sehende Objekt. Bei Winkelfehlsichtigkeit liegt ein Ungleichgewicht der Augenbewegungsmuskulatur vor, die dem Betroffenen einen mehr oder weniger großen Energieaufwand abverlangt, um Einfachsehen zu ermöglichen. Würden die Augen ihre anstrengungsärmste Stellung einnehmen, entstünden Doppelbilder. Der Winkelfehlsichtige unterliegt dem (unwillkürlichen) Zwang, diesen Sehfehler auszugleichen, was zu vielfältigen Beschwerden führen kann. Zu vergleichen ist dies vielleicht am besten mit einer Abweichung im Körperbau, z.B. ein Bein ist leicht kürzer als das andere. Rückschmerzen und Verspannungen können die Folgen sein, und dies kann einfach durch eine entsprechende Einlage im Schuh ausgeglichen werden. Prismenbrillen können Winkelfehlsichtigkeiten ausgleichen.


Diesen Artikel teilen